Wahlprüfstein Landtagswahl 2019: Pro Bahn

Vision: Wie stellen Sie sich einen erstrebenswerten ÖPNV in der Stadt und auf dem Land vor?

Wie wir uns einen erstrebenswerten ÖPNV vorstellen, haben wir jüngst in einem Antrag im Sächsischen Landtag formuliert (Drs. 6/ 17160 „ÖPNV-Reform Sachsen 2019“). Unsere Vision ist demnach:

  1. ÖPNV ist Pflichtaufgabe der Kommunen
  2. Sachsen hat einen Tarifverbund
  3. ÖPNV-Anbindung ist garantiert, u.a. 2‑Stunden-Takt für Gemeinden > 500 Einwohner
  4. Barrierefreiheit nach PBefG ist umgesetzt
  5. ÖPNV wird in Landesentwicklung und Verkehrsplanung gegenüber MIV priorisiert
  6. Es gelten umfassende Servicegarantien für Fahrgäste (Tarifklarheit, Informations- und Vertriebsgarantie, Anschlussgarantie, Begleitservice, Zugang zu Schlichtungsstelle)
  7. Vertragsstrafen sind Pflichtbestandteil von Verträgen und werden durchgesetzt
  8. das „Wachstumsszenario“ aus dem Bericht der Strategiekommission wird umgesetzt und mit einem langfristigen Finanzierungskonzept abgesichert, inkl. Modellprojekten mit „Nutznießerfinanzierung“, „Bürgerticket“ und „fahrscheinfreien ÖPNV“
  9. die Bahnstrecken Chemnitz-Leipzig, Dresden-Görlitz und Görlitz-Cottbus sind elektrifiziert, Sachsen setzt ein Investitionsprogramm „Streckenreaktivierung“ (u.a. HY-BZ) um
  10. Radstationen bzw. überdachte Radabstellanlagen an allen Bahnhöfen und Haltestellen
  11. es gibt in jeder Stadt mit eigenem Stadtverkehrsangebot einen kommunalen Fahrgastbeirat, die Bevölkerung kann an der ÖPNV-Planung umfassend mitwirken

Organisation des ÖPNV: Wie sollte die Aufgabenträgerstruktur für Bus und Bahn zum Ende der nächsten Legislaturperiode aussehen? Welche konkreten Umsetzungsschritte streben Sie an?

Das Ziel sollte ein einheitlicher Tarifverbund sein, um das Tarif-Wirrwarr zu beenden. Der erste sofortige Schritt dazu ist ein Sachsentarif für verbundübergreifende Fahrten und ein unentgeltliches Ausbildungs- und Azubiticket (inkl. Freiwilligendienstleistenden) für Sachsen. In der kommenden 7. Legislaturperiode soll es für die Fahrgäste keinen Unterschied für den Fahrkartenkauf in allen Regionen in Sachsen geben. Die Verbünde sind für die Kunden in einem sachsenweiten einheitlichen System organisiert. Langfristig sollen diese in ganz Mitteldeutschland gelten. Ein weiterer Schritt ist der Aufbau eines Landesamtes für nachhaltige Mobilität die u.a. diese Aufgaben koordiniert.

Haushaltsmittel: Bei vielen Ausbauprojekten für den Schienenverkehr in Sachsen (z.B. Elektrifizierung von Strecken über den BVWP hinaus) wird auf Projekte des Bundes verwiesen. Sind Sie, wenn der Bund keine zeitnahe und ausreichende Finanzierung übernimmt, stattdessen bereit, Haushaltsmittel des Freistaats für die sächsische Schieneninfrastruktur – nicht nur für die Planungskosten, sondern auch für die Baudurchführung – in die Hand zu nehmen?

Ja! Dazu sind wir bereit und haben dies auch mehrfach gefordert. Von dem Kauf und Betreiben landeseigener Schieneninfrastruktur (Umgehung überzogener Trassenpreis-Gebühren) bis hin zur Neuaufteilung der bisher vom Bund gewährten Finanzmittel (u.a. Entflechtungsgesetz) zu Gunsten von Investitionen in die Bus- und Bahninfrastruktur in Sachsen bis hin zur Forderungen ein langfristiges Finanzierungkonzept vorzulegen, um den ÖPNV auszubauen (siehe Frage 1), und die Strecke Dresden-Prag nicht zu Lasten der anderen Schieneninfrastrukturprojekte zu bauen bzw. dafür Haushaltsmittel bereit zu stellen.

Fahrzeugprobleme: Bei den Betriebsaufnahmen der letzten Jahre gab es häufig Kritik. Die Fahrzeuge sind oft verspätet verfügbar, in zu kleiner Zahl beschafft, zu klein, unkomfortabel oder leiden anhaltend unter Verfügbarkeitsproblemen. Besonders abschreckende Beispiele sind die Reichsbahnwagen auf der Strecke Chemnitz – Leipzig oder die zu kleinen Triebwagen auf dem Saxonia zwischen Leipzig und Dresden. Welche Abhilfe planen Sie für diese grundsätzlichen Probleme?

In unserem Antrag „ÖPNV-Reform Sachsen 2019“ haben wir das Ziel formuliert, dass „der ÖPNV in Sachsen zukünftig vollständig mit emissionsarmen, komfortablen (z.B. WLAN, Klimatisierung) und sicheren Fahrzeugen sowie qualitativ hochwertigen Haltestellen und Stationen (u.a. mit Witterungsschutz) ausgestattet „ sein soll. Dazu bedarf es einer Anpassung des Sächsischen ÖPNV-Gesetz und einer fairen Vergabepraxis in Sachsen. Außerdem müssen Vertragsstraßen für Minderleistungen (Zugausfälle, kaputte Toiletten etc.) in Verträgen festgelegt und durchgesetzt werden. Ein geeignetes Instrument wäre u.a. die Zusammenfassung der Sächsischen Verkehrsverbünde in einen landesweiten Verkehrsverbund mit dezentraler Verkehrsplanung (zur Sicherung der lokalen Passgenauigkeit der Angebote).

Infrastruktur: Durch Entgelte und Gebühren für die Benutzung der Schienen und Stationen wird die Dividende für die DB AG Holding verdient und Bahnverkehr immens verteuert. Warum muss mit Infrastruktur Gewinn erzielt werden? Einmal mit dem RE im Bahnhof Görlitz zu halten kostet 40,06 EUR, ein Fernverkehrshalt gar 96,59 EUR. Das verhindert, dass Görlitz gut an den Bahnverkehr an-gebunden wird. Halten Sie eine Übernahme der Bahninfrastruktur durch den Freistaat (unter Zahlung von Ausgleichsmitteln ähnlich der Regionalisierungsmittel) für sinnvoll? Welche konkreten Schritte wollen Sie gegen überhöhte Infrastrukturgebühren unternehmen?

Das ist eine sehr sinnvolle Maßnahme und könnte in einem ersten Schritt z.B. für reaktivierte, neu beplante / baulich veränderte Strecken in Angriff genommen werden. Das ist ein langer Weg. Deshalb muss parallel direkt die Architektur des Systems Bahn in Deutschland angepasst werden. Keine Profite mit Angeboten der öffentlichen Daseinsvorsorge auf Kosten der Fahrgäste und des ländlichen Raumes!

Mobilität in Verdichtungsräumen: Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht das 365 EUR-Jahresticket als Element im Verkehrsmanagement von Ballungsräumen? Welche flankierenden Maßnahmen sind aus Ihrer Sicht zusätzlich nötig (z.B. Parkraumbewirtschaftung, Sozialtickets), um in den großen Zentren stadtverträgliche Mobilität für alle zu sichern?

Das 365-Euro-Ticket ist ein sinnvoller Ansatz zur Förderung der Nachfrage im ÖPNV. In Ballungsräumen sind allerdings Busse und Bahnen in zunehmenden Maß „überfüllt“. Hier braucht es über „Push- bzw. Förderansätze“ im ÖPNV hinaus unbedingt auch „Pull- bzw. Minderungsansätze“ im Motorisierten Individualverkehr um ein „Aufblähen“ der Infrastruktur zu verhindern. Wirksame Ansätze wie Parkraumbewirtschaftung, Quartiersgaragen, autofreie Zonen, Verkehrsplanung nach städtebaulichen statt verkehrstechnischen Prämissen, Verkehrsberuhigung etc. existieren bereits, bedürfen jedoch einer engagierten und sozialverträglichen Umsetzung vor Ort.

Fernverkehrsanbindung: Die DB plant im Fernverkehr die Ausweitung ihres IC-Netzes. Sehen Sie eine Querfinanzierung durch die Anerkennung von Nahverkehrstickets als richtiges Mittel, um deren Erfolg sicher zu stellen? Welche sächsischen Städte möchten Sie ans IC-/ICE-Netz anbinden?

Langfristig erscheint eine Anbindung aller sächsischen Mittelstädte auf den Strecken Cottbus-Zittau, Görlitz-Dresden, Hof-Dresden, Erfurt-Chemnitz und Leipzig-Chemnitz für sinnvoll. Einige dieser Strecken sind noch nicht im Zielnetz der DB AG für 2030 enthalten. Eine Querfinanzierung sollte unbedingt im Rahmen eines einheitlichen sächsischen Tarifverbundes bzw. eines Zusammenschlusses der Verkehrsverbünde zu einem Verkehrsverbund geprüft und ggf. umgesetzt werden. Darüber hinaus sehen wir den Erfolg nicht nur mit einer guten tariflichen Integration der IC-Strecken, sondern insbesondere in eine Einbindung ins Sächsische ÖPNV-System (Stichwort: Vertaktung!).

Wiederinbetriebnahmen: Reaktivierungen von Schienenstrecken in Sachsen erfolgten bisher bestenfalls in homöopathischen Dosen. Für welche Strecken und nach welchen Kriterien möchten Sie binnen der kommenden Legislaturperiode eine Reaktivierung vorantreiben?

Wir streben für alle (noch nicht entwidmeten) Schienenstrecken eine Überprüfung an, die seit 1990 aus dem Betrieb genommen worden sind. Seit 1990 wurden über 400 Streckenkilometer stillgelegt, wie eine Kleine Anfrage von uns offenlegte. Die Überprüfung muss jedoch auch anhand einer ÖPNV-Verflechtungsprognose einhergehen, in der die Synergien aus einem dichteren Schienennetz, einem landesweiten Tarifverbund, einer verbesserten Fernverkehrsanbindung und Klimaschutzmaßnahmen im Pkw-Verkehr in ihrer Auswirkung auf Angebot und Nachfrage betrachtet werden. Unabhängig davon sollten Potenzialstudien für die Strecken Döbeln-Meißen und Bautzen-Hoyerswerda bereits kurzfristig erstellt werden.

Grenzüberschreitender Schienenverkehr: Die grenzüberschreitenden Verkehre zu den Nachbar-ländern Tschechien und Polen sind häufig stark verbesserungswürdig. Takte sind zu dünn, An-schlüsse an die Nachbarbahnen passen nicht. Auf der frisch ausgebauten Magistrale Leipzig – Horka – Węgliniec (Kohlfurt) gibt es gar keine grenzüberschreitenden Personenzüge. Welchen Standard streben Sie für die grenzüberschreitenden Verbindungen an und wie wollen Sie diesen umsetzen?

Sowohl nach Tschechien, als auch nach Polen müssen mittelfristig reguläre, mehrmals täglich verkehrende Schienenfernverkehrsangebote realisiert werden, egal ob ICE oder EC/IC. Insbesondere für die Verbindung Dresden-Wroclaw besteht Handlungsbedarf, aber auch nach Liberec. Ein erster Schritt wäre die Verankerung der Elektrifizierung von Cottbus-Zittau und Dresden-Görlitz in Investitionsprogrammen bzw. Bund-Länder-Verträgen im Zuge der Gesetze zum Kohleausstieg in diesem Jahr. Darüber hinaus bedarf es auch im Regionalverkehr einer besseren Grenzüberschreitenden Angebots- und Investitionsplanung, als Beispiel können die Verbindungen im Erzgebirge nach Tschechien mit der Bahn, aber auch das immer noch nicht umgesetzte Straßenbahnprojekt in Görlitz gesehen werden.

Anbindung des ländlichen Raums: Viele Orte auf dem Land sind am Sonntag und teilweise auch am Samstag nicht oder nur schlecht angebunden. Auch ein Öffentlicher Verkehr am Abend, insbesondere am Wochenende, ist abseits der Großstädte meist nicht existent. Selbst tagsüber scheitern attraktive Angebote oft spätestens an der Landkreisgrenze. Wie wollen Sie hier für Verbesserungen sorgen, sodass auch auf dem Land brauchbare Alternativen zum Auto angeboten werden?

Zum einen durch die Festschreibung des ÖPNV als Pflichtaufgabe und einer gesetzlichen Fixierung einer Anbindungsgarantie (tgl. Takt). Auf der anderen Seite bedarf es neuer Finanzierungsmodelle für den ÖPNV. Darüber hinaus braucht der ländliche Raum neue Gesamtpakete für eine vielfältigere Mobilität, inkl. mehr Carsharing-Angeboten, besserer Radinfrastruktur, kürzen Schulwegen (vgl. unserer Initiativen zu längerem gemeinsamen Lernen), günstigeren ÖPNV-Tickets und Veranstaltungs- bzw. Nachfragebezogenen Angeboten (Kulturbus, Fahrradbus, Discobus …).