Dokumentenanhang zum Newsletter 01/2021

Corona-Krise – zweite Welle:
Ökonomische Perspektiven und soziale Belastungen

Der erneute Anstieg der Infektionen und auch der Hospitalisierungs- und Sterberaten im Herbst 2020 – in den meisten europäischen Ländern und den USA noch stärker als in Deutschland – macht deutlich, dass die Krise auch mittelfristig die Entwicklungsperspektiven des kapitalistischen Weltsystems verändern wird. Vor dem Hintergrund sich eintrübender Wachstumsperspektiven und struktureller Umbrüche sind die wirtschaftlichen und sozialen Belastungen durchaus ungleich verteilt. Gewerkschaften und soziale Bewegungen müssen sich darauf einstellen, dass die Kapitalseite unter Berufung auf die Krise und ihre Kosten verstärkt den Verzicht auf wirtschaftliche und soziale Forderungen verlangen wird. Die Marginalisierung demokratischer Mitwirkungsgedanken bei der autoritären Implementierung der Corona-Maßnahmen soll helfen, den Lohnabhängigen neue Bescheidenheit beizubringen.

Mittelfristige Wirkungen der Corona-Krise

Der weltweite Produktionseinbruch 2020 – nur China bleibt teilweise verschont – hat die konjunkturelle Abschwächung des Jahres 2019 verlängert und verschärft. Wie in Z 123 gezeigt hat die Corona-Krise vor allem jene strukturellen Krisenerscheinungen akzentuiert, die seit der Finanzkrise 2008/09 auf der kapitalistischen Weltwirtschaft lasten und die durch die zögerliche Konjunkturbelebung 2010/18 nicht gelöst worden sind. Dazu zählen der Formwandel der Globalisierung im Kontext verschärfter hegemonialer Konflikte, die Finanzialisierung und die Klimakrise, verbunden mit Strukturkrisen in tragenden Wirtschaftszweigen. Weitere strukturelle Umbrüche zeichnen sich als Folge der Pandemie ab: Diese betreffen bislang expandierende Sektoren wie persönliche Dienstleistungen, Tourismus/Freizeit und Verkehrswirtschaft. Beobachter sprechen von der Etablierung „einer 90% oder … 95% Wirtschaft“, die selbst bei medizinischen Erfolgen in der Bekämpfung des Virus eintreten könnte.[1] Anders als in vorangegangenen Krisen sind Dienstleistungen stärker betroffen als die Industrie.

War man anfangs davon ausgegangen, dass der durch den Lockdown verursachte Produktionseinbruch im zweiten Halbjahr 2020 wieder überwunden sein würde, so ist die Stimmung am Jahresende skeptischer: Dem Einbruch der Monate März/April folgte ein rascher Wiederanstieg, der aber zur Jahresmitte ins Stocken gekommen ist. Dies zeichnete sich schon ab, bevor in Europa die Infektionsraten wieder steil anstiegen und Ende Oktober Maßnahmen ergriffen wurden, die einem erneuten Lockdown nahekamen. Während versucht wurde, dieses Mal Kernbereiche der Ökonomie zu schonen (der Verzicht auf Schul- und Kitaschließungen soll die Verfügbarkeit von Arbeitskräften sicherstellen) und Handelswege offenzuhalten, wurden die oben erwähnten Dienstleistungsbereiche erneut voll getroffen. Die Projektionen von Oktober, die für die entwickelten Länder einen deutlichen, aber mit den Folgen der Krise 2008/2009 vergleichbaren Einbruch prognostizierten, dürften nun Korrekturen nach unten erfahren.[2] Die Hoffnung auf einen kräftigen Aufschwung im kommenden Jahr erscheint vor diesem Hintergrund übertrieben optimistisch.

 

Globales Wirtschaftswachstum (Projektion)
2019 2020 2021
Welt, dar.: + 2,8 - 4,4 + 5,2
 Entwickelte Länder, dar.: + 1,7 - 5,8 + 3,9
  USA + 2,2 - 4,3 + 3,1
  EU + 1,3 - 8,3 + 5,2
  Deutschland + 0,6 - 6,0 + 4,2
  Japan + 0,7 - 5,3 + 2,3
Schwellen- Entwicklungsländer, dar.: + 3,7 - 3,3 + 6,0
 China + 6,1 + 1,9 + 8,2
 Indien + 4,2 - 10,3 + 8,8
 Russland + 1,3 - 4,1 + 2,8
 Lateinamerika 0,0 - 8,1 + 3,6
 Sub-Sahara Afrika, dar.: + 3,2 - 3,0 + 3,1
 Südafrika + 0,2 - 8,0 + 3,0
Welthandelsvolumen + 1,0 - 10,4 + 8,3

Quelle: IMF, World Economic Outlook, October 2020, S. 9.

 

Neben den staatlich verordneten Beschränkungen sind Verhaltensänderungen der Bevölkerung in Rechnung zu stellen, die dauerhafter sind als Ge- und Verbote. Das als „social distancing“ bezeichnete Verhalten ist vor allem in reichen Ländern zu beobachten, in denen Beschränkungen der Mobilität ohne wirtschaftliche Einbußen möglich sind. Verzicht auf Reisen, Restaurantbesuche, kulturelle bzw. sportliche Veranstaltungen und der Ausbau von Telearbeit sind Reaktionen auf Ansteckungsrisiken, die das Ende der Pandemie überdauern werden. Es ist auch nicht zu erwarten, dass der Einbruch im privaten Konsum rasch ausgeglichen werden wird. Nach dem Auslaufen der staatlichen Unterstützungsmaßnahmen – die Ende Oktober nochmals aufgestockt wurden – werden die mit der Krise verbundenen Arbeitsplatz- und Einkommensrisiken die Konsumnachfrage dämpfen. Zudem dürfte das exportorientierte Deutschland mittelfristig unter einem nur noch moderat wachsenden Welthandel leiden, der Anteil des Außenbeitrags wird sinken.[3] Die erneuten Restriktionen der europäischen Nachbarländer, oft rigider als in Deutschland, werden die Exporte zusätzlich belasten.

Nimmt man China aus, so trifft die Krise – anders als 2008/09 – die Schwellen- und Entwicklungsländer mindestens ebenso stark wie die entwickelte Welt. Schwere soziale Rückschläge sind zu erwarten: „Die Pandemie wird die seit den 1990ern erreichten Erfolge bei der Armutsbekämpfung umkehren und die Ungleichheit vergrößern“, meint der Internationale Währungsfonds (IWF).[4] Der Trend zur Polarisierung der Einkommen dürfte sich verstärken: „Allgemein sind Bezieher niedriger Einkommen stärker von Arbeitsplatzrisiken betroffen…“ [5] Die Möglichkeiten, die Wirkungen der Krise durch expansiven Fiskalpolitik abzufedern, sind in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern begrenzt: Neue Schuldenkrisen könnten die wirtschaftliche Erholung mittelfristig blockieren. Die reichen Länder und die Internationalen Finanzorganisationen zeigen bislang wenig Neigung, über zeitlich begrenzte Schuldenmoratorien hinaus Maßnahmen zur definitiven Entschuldung voranzubringen. Der globale Süden wird große Schwierigkeiten haben, die Krise zu überwinden: Schrumpfender Tourismus, rückläufige Überweisungen von Arbeitsmigranten, volatile Kapitalbewegungen ebenso wie gesunkene bzw. schwankende Rohstoffeinnahmen belasten die Erholung.

Mittelfristig sind die globalen Wachstumserwartungen (bis 2025) niedriger als vor Ausbruch der Pandemie. Die Konsolidierung der nochmals gestiegenen Verschuldung, die Effekte der zugespitzten Einkommensgegensätze und die Bewältigung der Strukturkrisen, die mit der Anpassung an Ursachen und Folgen der Klimakrise und Verhaltensänderungen im privaten Konsum zusammenhängen, stellen die kapitalistische Wirtschaft und die staatlichen Akteure vor große Herausforderungen. Die notwendige internationale Kooperation wird durch mit dem Kampf um globale und regionale Hegemoniepositionen verbundenen Gegensätze behindert. Die Beschwörung von „multilateraler Kooperation“ und des „regelbasierten multilateralen Handelssystems“ durch den IWF klingt hohl angesichts von Konflikten, in denen handelspolitische und andere Sanktionen alltäglich geworden sind. Das Coronavirus beschleunigt die Hegemoniekrise der USA, nicht nur im Verhältnis zu China. Die Schwächung der US-Hegemonie befeuert auch regionale Konflikte, in denen neue Akteure eigene Interessen verfolgen.

Bei Beurteilung der mittelfristigen Dynamik sind die wirtschaftlichen Folgen verstärkter Digitalisierung und der Maßnahmen zur Verlangsamung des Klimawandels einzubeziehen. Ohne dass hierauf näher eingegangen werden kann ist festzuhalten, dass weder die beschleunigte Ausbreitung der Informations- und Kommunikationstechnologien noch die „Dekarbonisierung“ und der Übergang zu CO2-sparenden Produktionsformen die Akkumulationsdynamik beleben werden: Dies zeigt exemplarisch die Automobilindustrie, in der neue Fahrzeuggenerationen per Saldo die Kapital- und Arbeitsanforderungen sowie die Länge der Zulieferketten verringern. Während der zusätzliche Investitionsbedarf von E‑Commerce, Telearbeit und Videokonferenzen gering sein dürfte, könnten die Anforderungen an Wirtschaftsbauten und die Verkehrsinfrastruktur sinken. Mittelfristig eher wachstumsverlangsamend wird auch die ‚marktkonforme‘, d.h. durch CO2-Bepreisung und öffentliche Subventionen bewirkte Dekarbonisierung der Wirtschaft wirken: „Die wachsenden CO2-armen Sektoren (…) sind weniger kapitalintensiv als die schrumpfenden Sektoren (…), so dass die Nachfrage nach Investitionsgütern sinkt“ [6], fasst der IWF das Ergebnis von Modellrechnungen zusammen.

Jörg Goldberg

 

Krisen-Betroffenheit

Die Reaktion von Bundes- und Landesregierungen auf die zweite Welle der Corona-Pandemie ist ganz davon geprägt, die Wirtschaft so weit wie möglich zu schonen. Der Lockdown light konzentriert sich auf den Bereich Freizeit sowie öffentliche und private Kommunikationsräume. Der Anteil der hierdurch unmittelbar betroffenen Branchen (Gastgewerbe; Sport, Kultur, Unterhaltung; Erholung und sonstige Dienstleister; Einzelhandel; Luftfahrt) liegt bei max. 5 Prozent der Bruttowertschöpfung, die Zahl der Erwerbstätigen bei etwa 5 Millionen (ca. 12 Prozent der Erwerbstätigen insgesamt).1 Stark betroffen in diesem Bereich sind neben den lohnabhängig Beschäftigten selbständige Mittelschichten (Gastgewerbe, Einzelhandel, Unterhaltungsbranche u.a.) und viele Prekäre im Bereich von Kunst, Unterhaltung und Kultur. Für die direkt betroffenen Branchen mit Publikumsverkehr hat die Bundesregierung 10 Mrd. Euro als Kompensationszahlung seitens des Staates avisiert, die aus dem bereits bestehenden Krisenfond („Überbrückungshilfen“) finanziert werden, der bei einem Volumen von 25 Mrd. Euro bisher nur mit etwa 2 Mrd. Euro belastet wurde. Die Kosten des Lockdown für die Gesamtwirtschaft werden vom DIW auf gut 19 Mrd. Euro geschätzt.2

Viele Betroffene in den genannten Sektoren sehen ihre wirtschaftliche und berufliche Existenz gefährdet. Der „Finanzstabilitätsbericht 2020“ der Bundesbank geht von einer deutlichen Steigerung der Insolvenzen in 2021 aus. Insbesondere die selbständigen Mittelschichten konnten ihre Eigentums- und Existenzinteressen mit starker medialer Resonanz vortragen. „Arbeitgeberpräsident“ Ingo Kramer sprach mit Blick auf Gastronomie- und Beherbergungsbetriebe von „Aktionismus vor sachlicher Begründung“ und warnte vor „Einschränkung unternehmerischer Freiheit“3. Die Politik müsse „darauf achten, dass die Akzeptanz für die Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronakrise in der Bevölkerung nicht verlorengeht“. Das zielte auch auf den Umstand, dass große Teile der (insbesondere städtischen) Bevölkerung als Konsumenten entsprechender Dienstleistungen von den Einschränkungen des Lockdown light betroffen sind. Kramer befürchtet hier einen wirtschaftsschädigenden Nachfrageeinbruch.

 

Kurzarbeiter Mai 2009, JahresÆ 2019 und Januar – Oktober 2020 (in Tsd.)
Mai ʼ09 Æ 2019 Jan. ʼ20 März ʼ20 Mai ʼ20 Juli ʼ20 Sept. ʼ20 Okt. ʼ20
1.440 145 382 2.834 7.300 5.552 3.733 3.286

Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Monatsbericht zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt in Deutschland, Oktober 2020, S. 64.

 

Ein wichtiger Indikator der Krisenbetroffenheit ist das Ausmaß der Kurzarbeit. Deren Maximum lag im Mai 2020 bei 7,3 Mio. (Maximum während der Finanzmarktkrise 2008/2009: unter 1,5 Mio.). Im Oktober, also vor dem neuen Lockdown light, arbeiteten nach Schätzung des Ifo-Instituts 3,3 Mio. Erwerbstätige kurz. Wo waren sie beschäftigt? Fast 50% im Verarbeitenden Gewerbe und anderen produktionsnahen Bereichen (Bau, Verkehr, Lagerei, Energie- und Wasserversorgung) sowie knapp 17% im Bereich Unternehmensdienstleistungen (incl. freiberufliche, wissenschaftliche und technische Dienstleistungen). Das restliche Drittel entfiel auf andere Dienstleistungen, darunter Handel (10%) und das Gastgewerbe (8%).4 Im Verarbeitenden Gewerbe lag der Kurzarbeiter-Anteil im Oktober mit etwa 18% mehr als doppelt so hoch wie im Bereich Handel, Verkehr und Gastgewerbe mit 8%. Trotz Anziehen der Industrieproduktion und Rückgang der Kurzarbeit seit dem Sommer bleiben die Beschäftigten im Produktionssektor also überproportional krisenbetroffen. In der medialen Öffentlichkeit ist dies kein Thema. Das gilt auch für die von ihnen zu tragenden Krisenlasten.

Mit Kriseneinbruch im März ist die Erwerbstätigkeit im Vorjahresvergleich deutlich zurückgegangen, die Arbeitslosenzahl gestiegen. Im September und Oktober d.J. waren nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) etwa 0,6 Mio. Personen mehr arbeitslos als im Vorjahr; die Arbeitslosenquote lag damit um 1,3 bzw. 1,2 Prozent höher als 2019. Gegenwärtig wird eine Zunahme der Kurzarbeit und ein stärkerer Übergang von Kurzarbeit in Arbeitslosigkeit erwartet. Mit dem Anstieg von Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit sinkt das Einkommen der Lohnabhängigen als Klasse. Ursache ist der krisenbedingte Rückgang der Arbeitszeit. Im Vorjahresvergleich ergab sich für das 2. Quartal 2020, also die erste Phase der Coronakrise, ein realer (preisbereinigter) Verdienstrückgang um 4,7 Prozent, ein deutlich stärkerer Einbruch als in der Finanzmarktkrise 2008/2009. Der Arbeitszeitrückgang und damit der Verdiensteinbruch ist bei den unteren (un- und angelernten) Lohnarbeiterschichten mit etwa 9 Prozent deutlich ausgeprägter als bei Beschäftigten in „leitender Stellung“ (ca. 2 Prozent).5 Zu beachten ist, dass bei dieser Berechnung vom Stat. BA das Kurzarbeitergeld nicht berücksichtigt wird, das diesen Einbruch der kollektiven Lohnsumme aber nur begrenzt abfedert. Besonders von der Krise betroffen ist die große Zahl – 7,6 Millionen, annähernd 19 Prozent der abhängig Beschäftigten, mehrheitlich Frauen – prekär-geringfügig Beschäftigter (Mini-Jobs), die nicht sozialversicherungspflichtig sind und keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld haben. Einer Erhebung des DIW zufolge hat sich deren Zahl zum Juni 2020 im Vorjahresvergleich um 850 Tausend vermindert, davon allein über ein Drittel im Gastgewerbe.6

Öffentliche Medien/Kommunikation

In den öffentlichen Medien stehen insbesondere die Einschränkungen in der Freizeit  sowie die materiellen Belastungen für die selbständigen Mittelschichten im Vordergrund, die von den Reise- und Bewegungseinschränkungen und flächenbezogenen Hygienevorschriften besonders betroffen sind, sowie Schulen und Einrichtungen der Kinderbetreuung. Letztere von besonderem Belang für Alleinerziehende und Familien, in denen beide Elternteile erwerbstätig sind. Die Belange der Masse der Berufstätigen – mit Ausnahme der als „Helden“ gefeierten Beschäftigten im Gesundheits- und Betreuungswesen – werden in der politisch relevanten Öffentlichkeit so gut wie nicht thematisiert und bleiben allein Angelegenheit des betrieblichen und gewerkschaftlichen Milieus. Die Orientierung auf lokale/regionale Maßnahmen zur Eindämmung von Infektionsherden und der erneute Lockdown light haben – in Verbindung mit der Dauer der Einschränkung von Grundrechten – zu stärkeren öffentlichen Auseinandersetzungen um deren Sinn und zu einer beginnenden Akzeptanzkrise (Kritik an den Corona-Maßnahmen) geführt, die in erster Linie von rechts aufgeladen wird. Hier schlägt die neoliberale Massenpsychologie des Egoismus, des konkurrenzbetonten Auslebens individualisierter Bedürfnisse (Konsumismus), eines asozialen Freiheitsverständnisses als Reaktion auf staatliche Regulierung durch. In diesem gesellschaftlichen Klima hat es eine rationale linke Kritik der staatlichen Ausschaltung von Freiheitsrechten, die notwendige Regulierungsmaßnahmen in Gesellschaft und Betrieb stärker gesellschaftlicher Kontrolle unterwerfen will, ausgesprochen schwer. Insgesamt zeigt sich, dass die Herrschaft der neoliberalen Konkurrenz- und Freiheitsideologie in der politisch-ideologischen Sphäre den Handlungsspielraum demokratischer, linker Bewegungen massiv einschränkt und Rechtstendenzen weiter fördert. Bei den Parteienpräferenzen drückt sich dies im ausgeprägten Zustimmungszuwachs für die „konservative Mitte“ bei weiterer Zurückdrängung der kapitalismuskritischen Linken und des sozialdemokratisch-grünen Reformflügels aus, in den sozialpolitischen Auseinandersetzungen in weiteren Versuchen, die Gewerkschaften und die Verteilungsansprüche der Lohnabhängigen an den Rand zu drängen. Für die politische, gewerkschaftliche und Bewegungs-Linke ein Lehrstück, dass der Kampf um Einfluss in der Sphäre der Ideologie und ideologischen Apparate unabdingbar ist.

André Leisewitz

 

Soziale Bewegungen in der Defensive

Im Verlauf der skizzierten wirtschaftlichen und sozialen Krisenprozesse und mit dem massiven Einsatz der ökonomischen Potenzen der staatlichen Exekutive haben sich die Kräfteverhältnisse im laufenden Jahr weiter zu Gunsten des Kapitals und zu Lasten der Lohnabhängigen verschoben. Das Großkapital profitiert vom staatlichen Krisenmanagement, verlangt massive Modernisierungsinvestitionen und verstärkt den Druck auf gesellschaftliche Umverteilung von unten nach oben. Auf der politischen Ebene gewinnt die „konservative Mitte“ Einfluss, die politische und gesellschaftliche Linke, Gewerkschaften und soziale Bewegungen sehen sich in der Defensive. Es zeichnet sich ab, dass die – durch die Pandemie verstärkten und schon lange schwelenden – Strukturkrisen und neu hinzugekommene soziale Verwerfungen nicht in die Wiederherstellung einer Normalität münden werden. Stattdessen sind die die Konflikte um die zukünftigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Weichenstellungen voll entbrannt. Hier müssten sich linke und sozial-ökologische Alternativen – unter erschwerten Bedingungen – bewähren.

Bereits im Mai positionierte sich der Unternehmerverband Gesamtmetall mit einem Generalangriff auf den Sozialstaat (s. dazu schon Z123, S. 39). Die vom IG Metall-Vorsitzenden Jörg Hofmann im August angestoßene Initiative für eine Vier-Tage-Woche (s. dazu die Beiträge von Margareta Steinrücke/Stephan Krull und Robert Sadowsky in diesem Heft) beantworteten Kapitalvertreter erwartungsgemäß mit scharfen Absagen. Stefan Wolf, Gesamtmetall-Chef in Baden-Württemberg und designierter Präsident von Gesamtmetall, ging zum Gegenangriff über und forderte von den Beschäftigten und den Gewerkschaften jetzt „Mehrarbeit ohne vollen Lohnausgleich“. Auch die 35-Stundenwoche passe nicht mehr in die Zeit. Arbeitszeiten seien flexibel zu gestalten, „je nach Auftragslage“. Spätzuschläge seien ebenfalls nicht mehr zeitgemäß wie auch „Sonderzulagen wie Weihnachtsgeld ebenso wie Pausenregelungen“.1

Die Politik, z.B. in Gestalt von Wirtschaftsminister Altmaier, sekundierte mit einer Offensive zur Sonntagsöffnung im Handel. Das eigentlich spruchreife „Mobile Arbeit Gesetz“ des BMAS wurde von den Unionsparteien gestoppt und mit einem eigenen Eckpunktepapier gekontert. Dessen Essenz: Arbeitszeitgesetz und tarifliche Regelungen sollen durch „Flexibilisierung“ ausgehebelt werden. Lange gehegte Deregulierungsträume werden aus der Schublade gezogen und mit dem Label des Anti-Corona-Krisenmanagements versehen.

Orientierungskrisen

Gewerkschaften, Klimabewegung und auch andere demokratische und soziale Bewegungen entwickelten unter erschwerten Bedingungen beachtliche Aktivitäten, sahen sich aber auch massiv unter Druck und mussten sich neu orientieren. Die Gewerkschaften verzeichnen Mitgliederverluste, ihre Verbindung zur Basis, zu den Betrieben und Betriebsräten ist eingeschränkt. Sie haben große Schwierigkeiten, ihre Machtressourcen zu mobilisieren.2 Für Tarifkonflikte der nahen Zukunft stimmt das nicht eben optimistisch.

Ver.di konnte im Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst das Instrument des Warnstreiks wirkungsvoll einsetzen, weil solche Streiks in Kitas oder Verkehrsbetrieben unmittelbaren Druck erzeugen. Allerdings gelang es den öffentlichen „Arbeitgebern“ mit ihrer Verzögerungstaktik und dem Rückenwind der Pandemiekrise, eine breite Solidarisierung der öffentlichen Meinung mit ver.di und den Held*innen des Krisenalltags zu verhindern. Die Gewerkschaft selbst konnte sich ihrer eigenen Durchsetzungsstärke nicht sicher sein. Das schlägt sich im durchwachsenen Ergebnis nieder.

Die Kräfte der Gewerkschaften werden derzeit durch Abwehrkämpfe gegen Arbeitsplatz- und Einkommensverluste absorbiert. Unter den Lohnabhängigen grassiert Zukunftsangst, der anstehende strukturelle Wandel wird als Bedrohung erlebt, was bei vielen in eine Verweigerungshaltung mündet. Das verstärkt zunächst Stimmungen und Tendenzen einer „konservierenden Politik“ 3.

In gewerkschaftlichen Stellungnahmen fehlt es nicht an positiven Bezügen auf eine notwendige soziale, ökologische und demokratische Umgestaltung.4 Auch gemeinsame Aufrufe von Gewerkschaften und Klimabewegung gab es schon mehrfach. Aktuelles und bemerkenswertes praktisches Beispiel ist das „zivilgesellschaftliche Bündnis“5 von ver.di, FFF und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband im Tarifkonflikt um bessere Arbeitsbedingungen im öffentlichen Nahverkehr, Klimaschutz und Verkehrswende. Wichtige Streitpunkte bleiben aber ausgeklammert – hier Lufthansa und Luftverkehr, an anderen Stellen Automobil und Kohle. Gerade sie müssten bearbeitet werden.

FFF machte in der Pandemiekrise die ernüchternde und verunsichernde Erfahrung, dass das Thema Klimawandel bei der adressierten Politik keine Priorität hatte und von ihr mehrheitlich als „ein Problem der fernen Zukunft wahrgenommen“ wurde.6 Nach Monaten des erzwungenen Rückzugs rief FFF im September wieder zu einem globalen Klimastreik auf – mit bescheidener öffentlicher Resonanz, verglichen mit früheren Aktionstagen. Das Instrument des Schulstreiks hatte nach Monaten des Homeschoolings seine Durchschlagskraft eingebüßt. Im Aufruf hieß es: „Wir haben gesehen, die Politik kann handeln, wenn es darauf ankommt. Jetzt fordern wir: tut das auch bei der Klimakatastrophe“. FFF beschränkt sich weiter darauf, mit einer Beschwörung der drohenden Katastrophe Forderungen an „die Politik“ zu richten. Diesmal an eine staatliche Autorität, die im Krisennotstand mit zweifelhafter demokratischer Legitimität agiert. Das scheint eher ein Ausdruck von Hilflosigkeit.

Reformbündnisse?

Derzeit überwiegen offenbar Alleingänge. Gewerkschaften kämpfen für das Soziale, Klimabewegungen für die Ökologie. Keine der Bewegungen kann ihre Ziele nur mit eigener Kraft erreichen. Die von ihnen angesprochenen Bevölkerungsgruppen erleben die Krise und die Risiken eines sozial-ökologischen Umbaus unterschiedlich. Erste Schritte zur Anerkennung der Prioritäten der je anderen Seite gibt es. Aber nirgendwo ist die Erarbeitung eines Reformbündnisses das zielstrebig verfolgte strategische Projekt. Dafür braucht es zum einen „diskursive Toleranz“7, also keine Formelkompromisse, sondern sicherlich kontroverse, aber solidarische Debatten über unterschiedliche Interessenlagen. Und es braucht Anknüpfungspunkte für gemeinsame Ziele und Reformvorhaben, die in den aktuellen Konflikten um Mobilität, Gesundheit, Bildung und Qualifizierung schon längst da sind.

Jürgen Reusch

Georg Fülberth

Ein Pamphlet

Anmerkungen zu Werner Plumpe, „Das kalte Herz. Kapitalismus: die Geschichte einer andauernden Revolution“[7]

Seit über hundert Jahren – spätestens beginnend mit Werner Sombarts Werk über den modernen Kapitalismus – sind schon so viele Darstellungen zur Geschichte dieser Gesellschaftsformation erschienen, dass darüber ihrerseits eine historische Darstellung verfasst werden könnte.

Die meisten von ihnen gehen implizit oder explizit von einem entweder angestrebten oder – seltener – befürchteten Ende der auf dem Privateigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln, Profiterzielung und Lohnarbeit beruhenden Ordnung aus. In Krisenzeiten werden diese Prognosen popularisiert, wie gerade jetzt, und fast schon zu einer Art Mode. Erfrischend kann da der Versuch anmuten, zumindest gegen den schnellfertigen Teil dieses Trends anzuschreiben.

Werner Plumpe, Jahrgang 1954, war bis 1989 Mitglied der DKP, wurde 1999 Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main, leitet den wissenschaftlichen Beirat der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, amtierte von 2008 bis 2012 als Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, ist Mitglied der Historischen Gesellschaft der Deutschen Bank e.V. und veröffentlichte 2020 zusammen mit einer Koautorin und einem Koautor im Propyläen Verlag eine Geschichte dieses Geldhauses. 2014 erhielt er den Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik.

I.

Der Titel seines Buches „Das Kalte Herz“ polemisiert gegen ein Märchen des spätromantischen Dichters Wilhelm Hauff aus dem Jahr 1827. Dort wird ein armer Köhler reich und unglücklich, als ein böser Geist ihm ein steinernes Herz einpflanzt. Nachdem diese Operation wieder rückgängig gemacht wurde, ist er zwar erneut arm, jetzt aber glücklich.

Für Plumpe ist dieses Märchen das Muster aller Kapitalismuskritik. Seine Gegenthese: Der Kern des Kapitalismus – sein „Herz“ – sei zwar kalt, aber gut für die kleinen Leute. Seine Stärke beruhe auf Angebotsflexibilität. Jede Nachfrage könne letztlich befriedigt werden, und zwar – aufgrund der hohen Skalenerträge von Massenfertigung – erschwinglich für alle. So kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass von Anfang an „der moderne Kapitalismus in gewisser Hinsicht eine Art Ökonomie für die Unterschichten war, die den Konsumenten in den Mittelpunkt rückte“ (224), die „spezifische Form der Unterschichtenökonomie“ (230). Wie schon bei Adam Smith ist Eigennutz eine Voraussetzung für Gemeinwohl. Als Beispiel führt der Verfasser den Dampfmaschinen-Unternehmer Matthew Boulton (1728 – 1809) an, der „bewusst den Massenmarkt adressierte, und indem er diesen Massenmarkt – zum Vorteil der breiten Bevölkerung – bediente, suchte er ebenso seinen eigenen Vorteil. Beides zusammen bildet seither den Kern dessen, was wir Kapitalismus nennen“ (137). Letztlich lässt sich dieses Verhältnis von Ursache und Wirkung sogar umkehren: Der Bedarf der nicht oder wenig Begüterten löst das ihnen nützliche Angebot aus. Gezeigt wird dies anhand der Entwicklung eines Produktionszweigs im 18. Jahrhundert: „Die Brauereiindustrie verkörperte damit klar den nachfragegetriebenen Weg in den Kapitalismus, der gegangen werden konnte, weil auf diese Nachfrage durch Ausweitung eines passenden Angebots reagiert wurde.“ (138) Allerdings ist es der Unternehmer, der den Bedarf erst entdecken und bedienen muss.

II.

Plumpe unterscheidet den Kapitalismus von seinem Kern, der in verschiedenartiger Weise in ihn eingebettet ist. So kommt es zu „varieties of capitalism“ (u.a. 457- 466). Der „Kapitalismus als Ordnungsrahmen der Ökonomie“ (491) weist allerdings, wenn er funktionieren soll, Konstanten auf, die ihn charakterisieren: „Variation durch privateigentumsgestütztes Nutzenkalkül, Selektion über Markterfolg und Restabilisierung über politische Entscheidungen“. (618) Letztere sind seit der „finanziellen Revolution“ des 17. des 18. Jahrhunderts an folgende Grundsätze gebunden: „geordnete staatliche Finanzen, ein berechenbares Haushalten der Obrigkeit mit einer moderaten Besteuerung und vor allem eine zumindest im Grundsatz stabilitätsorientierte Geldpolitik, denn von alldem hängt die Funktionsfähigkeit der Selektion über Märkte wesentlich ab.“ (609)

Plumpes opulentes Literaturverzeichnis enthält zwar Friedrich August von Hayeks propagandistisches Buch „Der Weg zur Knechtschaft“, nicht aber dessen kleine Schrift „Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“. Er nennt diesen Autor im Text und kritisiert ihn auch einmal, weil er ausschließlich auf „die spontane Emergenz einer liberalen Ordnung“ setze: „Ein funktionsfähiger Markt setzt seinen politischen Hüter voraus!“ (709) Seine Ausführungen zu Variation und Selektion dagegen folgen exakt Hayeks Vorgaben, mit denen er den Gestus der Verteidigung eines von Nichtliberalen angefochtenen Prinzips teilt.

Thomas Piketty, mit dem er sich auseinandersetzt, hat er offenbar nicht gelesen. Ihm und den mit ihm Gleichgesinnten hält er entgegen: „So ist die Zunahme der sozialen Spreizung nicht nur in Deutschland keineswegs ein stabiler Trend. Bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war die Spreizung hoch, bedingt durch die hohen Investitionsquoten von über 20 Prozent; zwischen 1918 und 1970 war sie jedoch, vor allem aufgrund der Auswirkungen beider Weltkriege, deutlich geringer. Seit den 1970er Jahren hat sie wieder zugenommen, doch nur bis etwa 2010.“ (576÷577) Just dies ist – mit Ausnahme des letzten Halbsatzes – die durchgängige Argumentation Pikettys in „Das Kapital im 21. Jahrhundert“.

Jenseits des Rahmens von Variation, Selektion und Restabilisierung bleibt bei Plumpe explizit der Bereich der allgemeinen Politik (mit Ausnahme der Sicherung des finanzpolitischen Rahmens). Sie gehört zum Umfeld des Wirtschaftens, wirkt mal fördernd, mal störend, ist erratisch, von der Ökonomie systematisch getrennt (Niklas Luhmann ist einer der Bezugsautoren), sodass der Autor bei ihr die Kritik an Katastrophen und Missständen abladen kann.

Am Beispiel des Ersten Weltkriegs: Dieser sei den deutschen Unternehmen völlig ungelegen gekommen, denn die damals bereits stark exportabhängige Wirtschaft des Reichs habe dadurch ihre Absatz- und Zufuhrmärkte verloren. Wenn auch Firmen, die bislang für die Ausfuhr arbeiteten, sich nun auf Rüstungsproduktion  umstellten, war dies unvermeidlich. „Dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs keiner ökonomischen Logik folgte, ist mittlerweile unbestritten. […] Die Tatsache, dass im Sommer 1914 die Eskalationsspirale nicht stoppte, sondern schließlich Anfang August in offene Feindseligkeiten mündete, lässt sich daher logisch kaum herleiten. Es handelt sich in der Tat um ein nur historisch zu erklärendes Ereignis; Christopher Clark hat dies überzeugend gezeigt“. (286) Der Wirtschaftshistoriker überweist ein Problem dem Allgemeinhistoriker, der für ein ganz anderes, nichtökonomisches System zuständig ist. Vorstellbar ist, dass, falls auch der mit seinem Latein am Ende sein sollte, die Theologie aushelfen müsste.

Seit der Weimarer Republik kann Demokratie die Märkte stören: „Die politischen Mehrheitsverhältnisse folgen in aller Regel nicht dem, was die Wirtschaftswissenschaften und die Unternehmen für vernünftig ansehen, also für die Basis einer leistungsfähigen Wirtschaft halten, sondern Massenstimmungen beziehungsweise dem, was die politischen Parteien für erfolgversprechend erachten.“ (321) Der deutsche Faschismus mit starker Ausdehnung des Staates in die Wirtschaft hinein sei „eine Art suspendierter Kapitalismus gewesen“, (369) auch wenn unter seinen Vorgaben das Kalte Herz fortschlug. In dieser Logik wären Zwangsarbeit als Antwort auf kriegsbedingte Knappheit auf dem Arbeitsmarkt und die Lieferung von Zyklon B als Angebot auf staatliche Nachfrage interpretier‑, aber unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten weder skandalisierbar noch auf Rechtfertigung angewiesen und müssten infolgedessen nicht gegen Gutmenschenkritik verteidigt werden. Plumpe muss das nicht eigens erklären, darf es also schweigend übergehen. Die subjektive Seite des Deals zwischen Staat und Faschismus kann taktvoll so umschrieben werden: „Dass es vielversprechender war, die geforderte Leistung freiwillig zu erbringen, als durch den Staat dazu gezwungen oder gar übernommen zu werden, war jedem Unternehmen klar.“ (386) Auch die Reformen der 60er und 70er Jahre seien „weniger eine Folge sich zuspitzender sozioökonomischer Problemkonstellationen als vielmehr ein genuiner politischer Vorgang“ (458) gewesen, der auf sie folgende Neoliberalismus insofern eine Emanzipation der Ökonomie von der Politik. Die Entwicklung hin zum finanzmarkgetriebenen Kapitalismus ist für Plumpe nicht problematisch, wohl aber die seiner Meinung nach inadäquate staatliche Antwort: Um ihren Rückhalt bei den Volksmassen nicht zu verlieren, versuchten Regierungen Marktbereinigungen, die in Crashs erfolgen, zu vermeiden, verschuldeten sich deshalb und wurden dadurch von Banken abhängig, die anschließend als systemrelevant von ihnen gerettet werden mussten. Der sich so anbahnende „staatlich-finanzindustrielle Komplex“ (587), die „Vermischung von staatlicher Institutionenbildung und der Funktionsweise der Märkte, wobei die Letztere der Ersteren systematisch nachgeordnet wird“, gefährdeten „die evolutionäre Dynamik des Kapitalismus“. (592) So würden Momente „einer Kehrtwende gegen den Kapitalismus“, befördert durch eine „parasitäre Obrigkeit“, sichtbar (593).

III.

Mit dieser Argumentation zeigt sich Werner Plumpe als ein Vertreter der Dritten Frankfurter Schule. Die Erste war bekanntlich mit den Namen von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer verbunden. Ihr folgte die satirische „Neue Frankfurter Schule“ im Umkreis der Zeitschrift „Titanic“. Inzwischen wird es aber wieder ernst: Im „House of Finance“ der Goethe-Universität wurden Institute aus den juristischen Fachbereichen zusammengefasst. In einer Selbstdarstellung auf ihrer Homepage zeigt die Alma Mater am Main, dass sie weiß, wo sie hingehört: „Die Goethe-Universität ist eine forschungsstarke Hochschule in der europäischen Finanzmetropole Frankfurt. Lebendig, urban und weltoffen besitzt sie als Stiftungsuniversität ein hohes Maß an Eigenständigkeit“.

Die Frankfurter Geschichtswissenschaft ist allerdings institutionell nicht ins „House of Finance“ einbezogen. Eine Annäherung an den genius loci vollzog sie aber bereits durch ihren starken Mann, der in mancherlei Hinsicht als Vorläufer, wohl auch Vorbild Plumpes gelten darf: Lothar Gall, Biograf von Otto von Bismarck und Hermann Josef Abs, Verfasser einer Geschichte des Hauses Krupp und ebenfalls zeitweise Vorsitzender des Verbandes der Historikerinnen und Historiker Deutschlands.

Ob bei solcher offenbar gern gesuchter Nähe zur Macht (Unternehmenshistoriker bedürfen, um an die Quellen heranzukommen, der Genehmigung für die Nutzung der Firmenarchive) der Grundsatz aller Geschichtswissenschaft: es müsse „sine ira et studio“ gearbeitet werden, eingehalten werden kann, ist fraglich. Sehr fein bemerkt Werner Plumpe über ökonomische Theorien und ihre Kontroversen zwischen Keynesianern und Neoliberalen: „Die wissenschaftlich notwendige Distanz zum Gegenstand ist dabei kaum gegeben.“ (496) Eine Parallele zu seinem eigenen, letztlich parteilichen Schaffen drängt sich auf.

Dass er die aktuelle Umweltproblematik nicht in seine Betrachtungen einbezieht, wirkt eher sympathisch, da antizyklisch. Über die Historiker sagte Eric Hobsbawm einmal, sie könnten erst wetten, wenn sie wüssten, welches Pferd gewonnen hat. Der Parole von Naomi Klein: „Kapitalismus vs. Klima“ stehen Behauptungen anderer Autorinnen und Autoren, es könne eine kapitalismuskonforme Ökologie geben, gegenüber. Man wird sehen. Dennoch könnte diese Leerstelle einen der schwachen Punkte in Plumpes Argumentation bezeichnen: Die von ihm hervorgehobene Angebotselastizität des Kapitalismus reagiert nur auf – wenngleich massenhafte aggregierte – individuelle Nachfragen, nicht auf kollektive und nur politisch artikulierbare. Bisher waren Letztere besonders deutlich in Extremsituationen sichtbar: Kriege, Pandemien, soziales Elend, das Herrschaft bedrohte. Immerhin gehört dazu auch Reformbedarf, der bedient werden musste, um die „westlichen“ Gesellschaften im Kalten Krieg zu ertüchtigen, sowie gegenwärtig das Bemühen um Verbesserung der jeweiligen militärischen und zivilen Infrastruktur im Kampf der kapitalistischen Staaten gegeneinander. Plumpes Begriff der politischen Restabilisierung erfasst dies ebenso wenig wie seine Beschränkung auf Marktprozesse. Diese verstellt ihm den Blick darauf, dass Kapitalismus neben Markt‑, auch Planwirtschaft ist – nicht nur, wie er selbst feststellt, im Faschismus und weniger in den zaghaften staatlichen Versuchen zu Globalsteuerungen, wohl aber in den internen Betriebsabläufen der großen Unternehmen. Dort gibt es kein Wechselspiel von Angebot und Nachfrage, sondern (innerhalb eines Konzerns auch globale) letztlich zentral definierte, wenngleich in den Zwischenstufen immer wieder auch dezentral umgesetzte Koordination von Produktion und Logistik. Der Markt bestimmt nur das externe Verhalten der großen Unternehmen zu ihren Zulieferern und Abnehmern sowie in der Konkurrenz untereinander. Um aber dort bestehen zu können, brauchen sie Planungskapazität, und zwar in großem Umfang. Dass ausgerechnet einem Unternehmenshistoriker dies entgeht, dürfte nicht das Ergebnis von Betriebsblindheit, sondern von ideologischer Fixierung sein. Wenn heute sogar Kommunalverwaltungen ihre Dienstleistungen als „Produkte“ bezeichnen, die mit Preisen versehen und im Innenbetrieb gegeneinander verrechnet werden, ist dies ein ähnliches Quidproquo (oder, in der Sprache der Ersten Frankfurter Schule: ein Verblendungszusammenhang), wie es in der Wahrnehmung dieses Autors zu existieren scheint. Nehmen strategiefähige, weltweit operierende und nicht marktförmig organisierte Unternehmen Einfluss auf staatliche Entscheidungen, entsteht eine Konstellation, der Plumpes ausschließlich auf – wenngleich „gehütete“ – Märkte beschränktes Modell unmöglich gerecht werden kann. Immerhin präsentiert dieser ja einmal seine Entdeckung eines „staatlich-finanzindustriellen Komplexes“, hat also etwas läuten gehört, ohne seinem Publikum mitteilen zu wollen, wo die Glocken hängen.

Die Frage, ob er ein Grundlagenwerk zur Geschichte des Kapitalismus geschrieben hat, muss leider verneint werden. Fast ist es unfair, sein Buch mit Hobsbawms Tetralogie über das Lange 19. und das Kurze 20. Jahrhundert, die ja in etwa den gleichen Zeitraum abdeckt wie „Das Kalte Herz“, zu vergleichen. Sie handelt von „Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht“ (MEW 23, S. 49), Plumpe dagegen von Marktprozessen, die innerhalb derselben irgendwie vorkommen. Er hat sein Buch auch nicht aus den Quellen und der Forschungsliteratur (von denen er unverkennbar große Kenntnisse hat) heraus erarbeitet, sondern benutzt sie hier lediglich zur Bebilderung seines ideologischen Konstrukts. Dass er sich dabei obendrein im Wesentlichen auf Nordamerika, West- und Mitteleuropa und hier wieder besonders auf Deutschland beschränkt, muss nicht eigens noch einmal betont werden: Es ist auch anderen Kritikern schon aufgefallen und evident.

Wir haben es nicht mit einem Geschichtsbuch zu tun, sondern mit einem Pamphlet gegen Kapitalismuskritik, also mit einem von zwei aktuellen Zeitgeist-Phänomenen: Das eine ist die Neigung, jedes aktuelle Wehwehchen ausschließlich dem Kapitalismus anzulasten, Plumpes Apologie ist das andere.

Sein Kollege Friedrich Lenger hat im „Merkur“ eine missgelaunte Rezension geschrieben, die vielleicht zu einer zunftinternen Vendetta gehört. In ihrem Titel aber findet sich eine treffende Charakterisierung: „Gefangen in der Kritik der Kapitalismuskritik“.

»Neoliberal ist neoliberal, diesseits und jenseits des Atlantik«

  1. Januar 2021

Joachim Paul Interview mit dem Ökonomen Heinz-Josef Bontrup über die US-Wahl und die Verflechtung von Wirtschaft und Politik 

Herr Bontrup, was für Vereinigte Staaten regiert nun Joe Biden? Noch am 4. Novemberkommentierte Nicholas Richter in der Süddeutschen Zeitung [1], die Wahl beweise, dass »Donald Trump zu einem guten Teil die Seele der Vereinigten Staaten von Amerika verkörpert«. Wie können wir dieses Land verstehen?

Heinz-Josef Bontrup: Nun, zunächst einmal freue ich mich, dass Donald Trump Geschichte ist. Und das Beste wäre, wir würden ihn einfach als eine Episode vergessen. Ich fürchte allerdings, so einfach wird es nicht gehen. Die Probleme in den USA liegen gesellschaftlich tiefer und haben auch einen historischen Hintergrund. Insofern ist es hoch interessant, wie sich die meisten Kommentatoren und Berichteschreiber geradezu naiv auf Donald Trump als personifizierte Ursache für alles Böse in den USA eingeschworen haben. Er ist sogar mit Nicholas Richter, wie Sie in ihrer Frageherausstellen, »zu einem guten Teil die Seele der Vereinigten Staaten von Amerika«. Das ist allesblanker Unsinn. Wir müssen uns vielmehr systemisch und nicht personalisiert die Frage stellen: Wer hat Trump zum Präsidenten gemacht? Dann werden wir zu dem Befund kommen, dassTrump nur eine aus dem Ruder gelaufene Marionette des US-amerikanischen Kapitals war, schon immer über die Republikanische Partei die einseitigen Profitinteressen der US-Plutokraten im Kongress und Senat hat vertreten lassen. Wir sollten uns allerdings in diesem Kontext auch fragen, ob die Demokraten letztlich im Kapitol nicht auch die Interessender mächtigen Kapitallobby vertreten, selbst wenn man diese Interessen differenziert sehen muss. US-Demokraten sind keine Sozialisten, die den US-amerikanischen radikalen Kapitalismus abschaffen wollen. US-Demokraten sind Neoliberale. Selbst Bernie Sanders, den man in den USA einen »Sozialisten« schimpft, wäre bei uns nur ein Sozialdemokrat, also ein Neoliberaler. Und trotzdem sind für viele Nicht-Denkende Amerikaner die Demokraten eine« kommunistische Gefahr fürs Land«. Vor diesem Hintergrund muss man über das Wahlvolk reden, aber auch über das problematische US-Wahlsystem mit« Wahlmännern« und die Verteilung der Stimmen über nur zwei Parteien. Stellen Sie sich vor, in Deutschland könnte man nur CDU/CSU oder die SPD wählen und die SPD würde beispielsweise in NRW nur ganzknapp die Wahlen verlieren, dann würden alle Stimmen der CDU/CSU gehören und auch nur diese Stimmen für NRW im Bundestag vertreten sein. Wir würden ein solches Wahlsystem für absolut absurd halten. Es ist aber in den USA Realität. Genauso ist es Realität, dass nur Geld darüber entscheidet, welche Kandidatinnen und Kandidaten bei den Wahlen überhaupt eine Chance haben, ins Rennen gehen zu können. Es sind Millionenbeträge, die man braucht; und ohne finanzielle Unterstützung von mächtigen Kapitallobbys, oder man ist selbst hyperreich, kann man eine Kandidatur völlig vergessen. Dies war bei der vielbejubelten Obama-Wahl nicht anders. Hier von Demokratie zu sprechen, ist schon bei der Wahlmethodik, gelinde gesagt, mehr als zweifelhaft.

In einem Essay in der Print-Ausgabe des Spiegel vom 16 Januar kommentiert die US-Schriftstellerin Siri Hustvedt die jüngsten Ereignisse, erinnert an die Lynchmobs vergangener Zeiten und diagnostiziert, dass der Trump-Slogan MAGA, »Make America Great Again« nichts anderes als »Make America White Again« bedeute. Ist dieses identitätspolitische Phänomen nur ein Ventil der wirtschaftlich Abgehängten? Und was haben die Demokraten damit zu tun?

Heinz-Josef Bontrup: Ich habe auch den Essay von Siri Hustvedt gelesen. Sie zeigt genau das auf, was ich auch sehe: Es gibt in den USA eine lange Geschichte von Rassismus, von Weiß und Schwarz, bis zum heutigen »Make America White Again«. Die USA waren diesbezüglich, seitihrer Gründung 1776, schon immer ein tief gespaltenes Land. Dies führte sogar von 1861 bis1865 zu einem grausamen Sezessionskrieg. Die Südstaaten wollten die Sklaverei nichtabschaffen. Unglaublich! Die renommierte Harvard-Historikerin Jill Lepore sagt in Bezug zur heutigen »Polarisierung« in der US-Gesellschaft, dass Trump daraus zwar Vorteile für seine abstruse Politik – »Make America Great Again« – hat ziehen können, aber die Polarisierung der Gesellschaft hat in Trump nicht ihren Ursprung. Sie ist ein systemisches Problem der USA. Wiegesagt, der radikale Kapitalismus, entweder bist du Sieger oder Verlierer – und der Sieger kriegt alles, hat eine durchgehende Geschichte in den USA.

Die Demokraten sehen das sicher ein wenig anders, sozialer, aber auch sie unterliegen dem großen neoliberalem Irrtum, dass sich der Staat möglichst weitgehend aus der Profitwirtschaft heraushalten soll. In der Finanz‑, Immobilien- und Wirtschaftskrise von 2007 bis 2009, die von den USA ausging, waren die Demokraten wirtschaftspolitisch genauso blind wie die Republikaner. Und ich kann mich nicht erinnern, dass Barack Obama eine nicht neoliberale Wirtschaftspolitik verfolgt hätte.

Dabei muss man allerdings berücksichtigen, dass die Verfassung der USA keine andere als eine radikale kapitalistische Wirtschaft zulässt. Sozialstaatliche Vorgaben, wie sie zum Beispiel im deutschen Grundgesetz verankert sind, sind der US-Verfassung wesensfremd. Die geradezu aberwitzige Debatte über die Gesundheitsreform von Obama hat dies nur einmal mehr als überdeutlich gemacht. Für die meisten US-Amerikaner ist Gesundheitsvorsorge und die Behandlung von Krankheiten ein »privates Gut«. So denken selbst einkommensschwache Schichten, die von der Reform nur profitieren. Dies zeigt deutlich eine tiefsitzende bürgerlich-kapitalistische Grundhaltung in der US-Gesellschaft, die sicher auch der fehlenden Festschreibung jeglicher Sozialpolitik in der US-Verfassung geschuldet ist.

Ist oder war das Verhältnis der führenden Republikaner zum häufig erratisch agierenden Trump nur eine Zweckallianz, oder steckt mehr dahinter?

Heinz-Josef Bontrup: Ich würde mit der schon erwähnten US-Historikerin Jill Lepore sagen: »Die Republikanische Partei ist eine nationale Peinlichkeit«. Sie wollte in der Tat nur mit Trump an der Macht bleiben. Übrigens immer gestützt vom US-amerikanischen Großkapital, dass nie während der Amtszeit von Trump, trotz seiner bornierten Wirtschaftspolitik, die auch dem US-Kapitalgeschadet hat, hörbar laut wurde und seine Politik in den Senkel gestellt hat. Aber mal ehrlich, wollen nicht alle Politiker und Politikerinnen und ihre Parteien an die Macht ‑und wenn sie oben angekommen sind, wollen sie auch da oben bleiben? Aber so, wie es in den USA zuletzt abging, mit der Nichtanerkennung von Wahlergebnissen durch einen amtierenden Präsidenten und mit zwei Amtsenthebungsverfahren sowie einem Sturm aufs Kapitol, an dem offensichtlich sogar Wachleute des Kapitols beteiligt waren, das sucht man in einem Land, das immer wieder von »Demokratie« als dem gesellschaftlich höchsten Gut spricht, das tief in der Verfassung verankert sei, wohl vergebens. Und noch nie in der Geschichte der USA musste so viel Polizei und mussten 25.000Nationalgardisten zum Schutz der Inauguration eines Präsidenten aufgeboten werden wie bei Trumps Nachfolger Biden. Wenn ein Präsident so vor dem Volk beschützt werden muss, so würde ich mal sagen, stimmt was nicht im Land. Und das ist ja auch der Fall. Das Thema der Rede von Joe Biden, »America United«, war bewusst in Abgrenzung zu Trumps »America First« Rede von vor vier Jahren gewählt. Biden will »vereinen« und nicht weiter »spalten«. Ein guter Vorsatz, mehr aber auch nicht. Warten wir ab, was daraus folgt. Sicher wird es den Kapitalismus in den USA nicht abschaffen. Der ist aber das Problem!

Der SPD-Politiker Erhard Eppler prägte zur differenzierteren Betrachtung konservativer Positionen die Begriffe »Wertekonservatismus« und »Strukturkonservatismus«, letzteren als negativbesetzten Ausdruck eines Strebens nach reinem Machterhalt. Lässt sich das Verhalten der republikanischen Parteistrategen dort einordnen oder brauchen wir möglicherweise weitere Kategorien?

Heinz-Josef Bontrup: Na ja, wenn Erhard Eppler noch leben würde, würde ich ihm sagen: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Eppler war als sogenannter »Linker« in der SPD einer der massiven Unterstützer der neoliberalen Agenda-2010-Politik von SPD und Grünen. Damit wollten sich beide Parteien unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder und dem grünen Vizekanzler Joschka Fischer geradezu beim Kapital anbiedern, die politische Macht sichern. Macht ist aber kein Selbstzweck. Macht setzt man ein, um damit Ziele zu erreichen. Und was waren die Ziele der Agenda-Politik? Den Geldmächtigen und den Unternehmern etwas Gutes zu tun.

Wir wissen doch, was passierte: Umverteilung! Die Lohnquote, der volkswirtschaftliche Anteil der abhängig Beschäftigten an der Wertschöpfung, wurde zu Gunsten der Profitquote massivgesenkt und die Steuern auf Kapitaleinkünfte ebenfalls. Zum Ausgleich erhöhte die Politik die indirekten Steuern zu Lasten der Einkommensschwachen.

Schröder lobte den von ihm ermöglichten Niedriglohnsektor in Deutschland als den Größten in der EU. Außerdem sei der überbordende Sozialstaat nicht mehr finanzierbar. Schröder redete der Privatisierung und dem vom Großkapital beherrschten Markt, der Shareholder-Value-Maximierung, das Wort. Und wir wollen hier die Grünen nicht vergessen, die an diesem neoliberalen Paradigmenwechsel voll beteiligt waren. Wo diese Partei heute, das gilt aber auch für die SPD, ideologisch angekommen ist, können wir jeden Tag in den Zeitungen lesen. Selbst mit einer strukturkonservativen CDU/CSU würden die Grünen heute aus reinem Machttrieb heraus sogar den Juniorpartner in einer Regierung stellen, wo sie übrigens nichts zu sagen hätten und sich nach einer Legislaturperiode mit einem einstelligen Wahlergebnis auf den Oppositionsbänken wiederfänden. All das zeigt übrigens das Egoistische eines Politikersund natürlich auch einer Politikerin, die heute an der Macht sind und sich darin selbstverwirklichen wollen. Es geht ihnen nicht um die Sache, und was danach kommt, dass ist ihnen so ziemlich egal. Hauptsache das Ego wurde befriedigt. Und selbst das Heute wird in der Politik verdrängt, weshalb nicht wenige sogenannte Volksvertreter und Volksvertreterinnen unter Realitätsverlust leiden. Wie will man sonst erklären, dass sie, die jeden Tag von Verantwortung faseln, es ertragen, dass wir eine Armutsquote von rund 16 Prozent in Deutschland und Massenarbeitslosigkeit haben, in einem der reichsten Länder der Erde? Der verstorbene Bundespräsident Johannes Rau hat einmal gesagt: »Ein Staat, der sich nicht am Ziel der Gerechtigkeit orientiert, ist nichts anderes als eine gemeine Räuberbande.« Recht hatte er: Dies unterstellt allerdings, dass der Staat, die Politik, frei handeln kann und dass der Staat auch gerecht sein darf. Erlauben das aber die Geldmächtigen und das Kapital oder gibt es hier gemäß Theodor W. Adorno und Max Horkheimer eine »privilegierte Komplizenschaft« zu Lasten der Mehrheit im Volk? Und jetzt frage ich Sie, sehr geehrter Herr Paul, was wollen Sie in diesem Kontext mit Strukturkonservatismus, mit den Kategorien eines neoliberalen Sozialdemokraten? Neoliberal ist neoliberal, diesseits und jenseits des Atlantik, in den USA tritt es nur deutlicher zutage.

Die Wahlkarte der USA zeigt, die Spaltung der Kulturen, zwischen Demokraten und Republikanern, ist auch eine Spaltung zwischen Stadt und Land. Insbesondere die Wahlkreismanipulation, das Gerrymandering [2], hat in republikanisch regierten Bundesstaateneine lange Tradition. Ist das reines Machtkalkül? Wenn nein, wofür steht Gerrymandering noch?

Heinz-Josef Bontrup: Natürlich steht Gerrymandering auch für Machtpolitik, aber noch einmal, wer hat heute in einer Postdemokratie, von der der britische Politikwissenschaftler Colin Crouchnicht unbegründet spricht, denn überhaupt noch das Sagen? Die Wirtschaft und das Kapital oder die Politik? Ich würde gerne mit dem verstorbenen Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer antworten, der schon 1996 sagte: Die Finanzmärkte haben längst die Machtübernommen und Politik hat sich hier zu fügen und unterzuordnen. Noch deutlicher brachte dies 2020 der ehemalige französische Umweltminister aus dem Macron-Kabinett, Nicolas Hulot, zum Ausdruck. Er begründete seinen Rücktritt mit den Worten: »Ich merkte, dass die Politikentmachtet worden ist durch die Finanzwelt.« Warum schafft es die Politik nicht, das weltweit vagabundierende und hochkonzentrierte Kapital an die Kette zu legen? Warum wurden die Finanzmärkte liberalisiert? Warum kann die Politik die unsäglichen Steueroasen nicht schließen? Warum gibt es bis heute nicht einmal eine Finanztransaktionssteuer? Soll ich weiter fragen? Hier wird doch wohl mehr als deutlich, dass Politik eben nichts mehr zu sagen hat. Crouch hat Recht, wenn er von einer Postdemokratiespricht.

Welche Rückschlüsse ziehen Sie – vor allem aus ökonomischer Perspektive – für die USA? Was sollten Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris tun? Und was werden sie Ihrer Einschätzung nachtun?

Heinz-Josef Bontrup: Die Frage muss lauten, was dürfen sie tun? Die hauchdünne politische Mehrheit in Kongress und Senat – im Senat ist es sogar ein Patt, dass aber die Vizepräsidentin Harris auflösen kann – setzt einen engen Spielraum. Mit einer für mich großen Enttäuschung gehen Biden und Harris schon ins Rennen. Sie bestellen nicht einmal den »Sozialisten« Bernie Sanders als Arbeitsminister, obwohl Sanders bis zum Schluss in den Vorwahlen bei den Demokraten neben Biden der letzte Mitkandidat war. Das lässt tief blicken. Wollen Sie eine deutliche Meinung von mir hören? Ich erwarte da nicht viel. Sicher wird es in der Außenwirtschaftspolitik wieder eine liberalere Ausrichtung geben. Gegenüber China bin ich mir nicht einmal sicher. Die Trumpsche Zollpolitik hat jedoch ein Ende. Auch wird Biden jetzt in der Coronakrise mehr staatliche Hilfsprogramme auflegen und womöglich auch mehr in die öffentliche Infrastruktur und F&E sowie Bildung investieren. Auch das Gesundheitswesen wird profitieren. Seinen im Wahlkampf versprochenen Mindestlohn von15 Dollar wird Biden gegen die Interessen des Kapitals und der Republikaner aber schon nichtmehr umsetzen können. An der entscheidenden, massiv ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen in den USA, den wahren Ursachen für die Spaltung der Gesellschaft, würde das aber auch nichts ändern. Die Rückkehr zum Klimaschutzabkommen von Paris und zur Weltgesundheitsorganisation sind für eine Volkswirtschaft wie die USA nur eine Selbstverständlichkeit. Dass er die »Steuerreform« von Trump, von der nur die Vermögenden profitieren, zurücknimmt, habe ich noch nicht gehört. Also, auch zukünftig bleibt die größte Volkswirtschaft der Welt eine ökonomisch und damit tiefgespaltene Gesellschaft.

Die Erleichterung hierzulande über die US-Wahl war in fast allen Parteien spürbar. Dies galt in besonderem Maße für die Konservativen und für die Altlantik-Brückler. Der Spiegel-Kolumnist Nikolaus Blome gab seinem Beitrag vom 9. November 2020 [3] den Titel »Alles wieder gut!« und schrieb von einer »strahlenden Stunde der USA«. Was sagen Sie zu diesen Konservativen?

Heinz-Josef Bontrup: Gar nichts ist gut. Konservative, egal ob in den USA oder bei uns, sind eben Konservative, die das Bestehende zementieren wollen. Ihre Wirtschaftspolitik ist eine einzige Katastrophe, weil sie die Interessen der Geldmächtigen und des Kapitals befriedigen. Deshalb ist die Politik der Konservativen auch immer nur eine Angebotspolitik. Dass der Markt aber auch eine Nachfrageseite hat, soweit wollen neoliberale Konservative aus ideologischen Gründen schon nicht mehr denken. Für Konservative gilt: Löhne und Steuern auf Kapitaleinkommen runter und den Sozialstaat am besten so gut wie ganz abschaffen. Diese ökonomische Irrlehre ist schon in der 1930er Jahren von dem großen britischen Ökonomen John Maynard Keynes ad absurdum geführt worden. An den sich die Konservativen aber in der Krise immer wieder gern erinnern, wenn sie in der Wirtschaft nicht mehr weiter wissen.

Welche Erkenntnisse sollten die internationale Gemeinschaft und insbesondere die EU und Deutschland aus dem Wahlergebnis für ihre eigene Politik und für den Umgang mit den USA ziehen?

Heinz-Josef Bontrup: Dass es für jede Volkswirtschaft und Gesellschaft hoch gefährlich ist, wenn man sie ökonomisch durch eine ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögenspaltet. Und dass die demokratisch gewählte Politik das Sagen haben muss und nicht das Kapital, das in Demokratien kein Herrschaftsrecht hat. Dies aber weitgehend an sich gerissen hat, wie ich bereits erwähnt habe.

Die Globalisierung bescherte uns neben der sehr viel schnelleren Verbreitung von Krankheitserregern auch Auftrieb für rückwärtsgewandte nationalistische Bewegungen. Erwarten Sie mit der Biden-Präsidentschaft eine Chance für eine positivere Entwicklung, etwa im Sinne eines Weltgemeinwohls, wie es beim Weltwirtschaftsforum in Davos immer wieder versucht wird, herbeizureden?

Heinz-Josef Bontrup: Nein, das erwarte ich nicht. Ein Weltgemeinwohl gibt es nicht. Wir müssen es aber dennoch erreichen, dass wir bei den überlebenswichtigen Fragen für die Welt, wie beim Klima, eine konsensuale und holistische Lösung für Alle finden. Insofern ist auch die Rückkehr der USA unter das Klimaschutzabkommen sehr zu begrüßen. Dem müssen aber auch für alle Länder entsprechende Taten folgen, sonst taugen solche Abkommen nicht. Dann sind sie allenfalls Placebos.

Abschließend noch eine allgemeinere Frage. Nicht erst mit Donald Trump wurden Fake News zur Grundlage von Verschwörungstheorien und politischen Überzeugungen, die entsprechendes Handeln nach sich ziehen. Sehen sie Möglichkeiten für die Politik von Staaten und Organisationen, diesen Entwicklungen demokratiefördernd entgegen zu treten?

Heinz-Josef Bontrup: Als Wissenschaftler finde ich es unerträglich, wenn Menschen Fake News und Verschwörungstheorien verbreiten. Das Internet hat dafür aber leider die Möglichkeit und gleichzeitig eine Massenverbreitungsbasis geschaffen. Dummes Zeug haben Menschen aber schon immer geredet und auch weitergegeben. Wie sagte Albert Einstein: »Zwei Dinge sind unendlich: Das Universum und die Dummheit der Menschen. Beim Ersten bin ich mir aber nichtganz sicher.« Und ein Chinesisches Sprichwort sagt: »Die Dummheit kann sich Kraft ihrer selbst leider nicht erkennen.« Mit dem Internet ist es nur aus dem Ruder gelaufen. Hier kann sich jeder und jede individuelle Fakten ohne jede wissenschaftliche Fundierung zurechtlegen und Behauptungen, die meisten sind grausam dumm, aufstellen und verbreiten – und das auch noch anonym. Man darf natürlich eine eigene Meinung haben, diese aber bitte nicht mit einer wissenschaftlichen Fundierung und umfassender Kenntnis von Sachverhalten verwechseln. Und hierbei ist zu beachten, dass Wissenschaft aus bereits empirisch verifizierten und noch nicht verifizierten Theorien besteht. Um das aber zu verstehen, muss man die jeweilige Wissenschaft und ihr »Gebäude« verstanden und durchdrungen haben. Das ist aber gleichzeitig das Problem. Alle Menschen können das eben nicht. Das verschafft den Wissenschaftlern in einer Gesellschaft eine herausragende Position, mit der sieverantwortungsvoll umgehen müssen. Sie müssen aber auch gesellschaftlich ihre Stimme gegen die Dummheit erheben, selbst wenn Wissenschaftler damit riskieren, als arrogant zu gelten. Und der Politik sollte es gelingen, das Internet vom Anonymen zu befreien. Jeder, der was ins Internet stellt, muss dies mit seinem Namen kenntlich machen und auch verantworten, so wie ich das mit diesem Interview mache. Und ich weiß, es kommt Kritik. Das ist völlig in Ordnung. Aber es kommt eben nur anonyme Kritik und die ist in der Regel ohne jegliche Substanz und nicht in Ordnung.

 

[1] Interview mit Clemens Fuest, Leiter des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, NZZ v. 26.10.2020.

[2] Dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung zufolge werden die Maßnahmen vom November das BIP zusätzlich um gut ein halbes Prozent belasten.

[3] Erholung verliert an Fahrt – Wirtschaft und Politik weiter im Zeichen der Pandemie, Gemeinschaftsdiagnose 2/2020, 14. Oktober 2020, Leibnitz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle, S. 70.

[4] IMF, World Economic Outlook: A long and difficult ascent, Washington DC, October 2020, Executive Summary.

[5] IMF, ebd. S. 14.

[6] IMF, ebd., S. 98/99.

1   Statist. Bundesamt, FS 18, R. 1.4, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen 2019, S. 112–113, 166–167.

2   DIW, Welt am Sonntag v. 1.11.2020. Schätzung für einzelne Branchen (in Euro): Gastronomie/Hotels: 5,8 Mrd., Sport, Kultur, Unterhaltung: 2,1 Mrd., Handel: 1,3 Mrd., Industrie: 5,2 Mrd. Die Interessenverbände der unmittelbar vom Lockdown betroffenen Branchen schätzen ihre Umsatzausfälle deutlich höher auf 20 Mrd. Euro und verlangen (75%-Regelung) 15 Mrd. Euro Entschädigung. FAZ v. 5.11.2020. Kurzarbeitergeld oder Überbrückungshilfen werden gegengerechnet.

3   Pressemitt. vom 29.10.2020. „Meines Erachtens sind die Einschränkung von sozialen Kontakten im privaten Wohnbereich wie im wirtschaftlichen Bereich mit zu wenig Augenmaß geregelt worden und zu weitgehend getroffen.“

4   Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1143138/umfrage/corona-krise-kurzarbeiter-nach-sektoren/

5   Stat. BA, Pressemitt. v. 22.9.2020. Vgl. auch Kohlrausch/Hövermann, Soziale Ungleichheit und Einkommenseinbußen in der Corona-Krise, in: WSI-Mitteilungen 6/2020.

6   M. Grabka u.a., Beschäftigte in Minijobs sind VerliererInnen der coronabedingten Rezession, DIW Wochenbericht 45/2020, S. 842–847.

1   Zeit-Online 24.10.2020.

2   Vgl. dazu Hans-Jürgen Urban, Corona, Kapitalismus, Demokratie. Demokratische Arbeitspolitik für ein neues Entwicklungsmodell. In: Christoph Schmitz/Hans-Jürgen Urban (Hrsg.), Demokratie in der Arbeit. Eine vergessene Dimension in der Arbeitspolitik? Jahrbuch Gute Arbeit 2021, Frankfurt/Main, i. E.

3   Klaus Dörre u. a. (Hrsg.), Transformationskonflikte und neue Bündnisse. Abschied von Kohle und Auto. Sozial-ökologische Transformationskonflikte um Energie und Mobilität, Frankfurt/Main 2020, i. E. Vorabdruck aus dem Nachwort; https://oxiblog.de/transformationskonflikte-neue-buendnisse/.

4   So z.B. Jörg Hofmann, Corona oder: Die Krise als Chance für eine sozial-ökologische Transformation. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 9/2020, S. 94–100 und auch die Antworten von vier Gewerkschaftsvorsitzenden (IG Metall, ver.di, IG BCE und EVG) auf Fragen zu einer sozial-ökologischen Mobilitätswende, in: Magazin Mitbestimmung, 5/2020.

5   So der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke (s. FN 4).

6   Ulrich Brand, Freiheit statt Egoismus: Die Klimabewegung nach Corona. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 10/2020, S. 113–120, hier: S. 113.

7   Ebd., S. 6.

[7] Werner Plumpe, Das kalte Herz. Kapitalismus: die Geschichte einer andauernden Revolution, Berlin 2019 (Rowohlt), 800 Seiten.